Und es zählt nur noch Champions League – Ein Bayerfan und sein Methadonprogramm

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19. Mai 2012. München. Finale dahoam. Als ausgerechnet Schweini seinen Elfer wie in Zeitlupe an den Pfosten setzt, weiß ich, dass es vorbei ist. Weiß, dass sich Drogba, der alte Haudegen, das nicht mehr nehmen lässt. Die letzten Sekunden und den grauenvollen Jubel in Blau nehme ich nur noch wie im Tunnel wahr. Es folgt die Leere, die große Depression. Alles Scheiße: Job unterbezahlt, Beziehung nervt, Freizeitgestaltung uninspiriert. Warum ist man eigentlich Fußballfan? Warum jubelt man mit über 30 Jahren ein paar unterarmtätowierten Millionären zu, um die eigenen unverwirklichten Träume ein bisschen weiterzuleben? Fußball ist für‘n Arsch.

Ein Jahr später. Wembley. Der Höhepunkt des deutschen Clásicos. Als Gündogan den Elfer zum Ausgleich versenkt, kommt sie wieder, die Angst. Nicht schon wieder. Doch Robben erlöst uns und alles bricht heraus. Mein Jubel nach dem Abpfiff ist im ersten Moment grenzenlos, kurz darauf aber schon sehr innerlich. Wie das Gelingen einer langen Mission, die man irgendwann einfach vollenden musste. Endlich das lang ersehnte Triple, hochverdient, gleichzeitig die ungeliebten Schwatzgelben geschlagen, das Chelsea-Trauma besiegt. Fußball ist der Hammer.

Chris-Bayern-FanJa, ich bin Bayernfan, und mit meinen Emotionen ist es kompliziert. Seit rund 25 Jahren liebe ich diesen Schickeria-Club mit dem Weltklassefußball. Ich sollte zum FCK-Fan gemacht werden und fand den Betze auch toll. Doch Wiggerl Kögls Außenbahnsprints und Roland Wohlfahrths Knipsertum fand ich toller. Vielleicht war es auch der Reiz des Verbotenen, denn schon damals bekam ich mit, dass die Bazis in meiner Heimat wenig beliebt waren und es sich einfach nicht gehörte, Fan von der arroganten Übermacht aus München zu sein. Doch ich fand Darth Vader auch immer faszinierender als Luke Skywalker, die Pfeife. Fand das böse Imperium spannender als die Rebellen.

Jedenfalls bin ich Bayernfan, kein Zweifel. Und trotzdem fühlt sich das manchmal seltsam an. Aber warum? Wegen den vielen Bayernfans mit ihrer ewig gestrigen, CSU-haften Arschloch-Attitüde, bei denen meine erste Assoziation meistens ein dezentes „Vollhorst“ ist? Wegen den klatschpappenklatschenden Event-Fans im magentafarbenen Shirt, die die Welt mit Selfies aus der Yuppie-Arena beglücken? Nein. All das ist nicht mein Problem. Mit CSU-Wählern muss ich nicht reden, wenn ich nicht will. Die Klatschpappen der Event-Fans muss ich nicht in die Hand nehmen, wenn ich nicht will. Doch es gibt andere Probleme.

Die Liga bietet kaum noch Spannung. Drei Meisterschaften in Folge, alles in Grund und Boden dominiert. Nun die vierte Meisterschaft in Folge vor der Brust. Schon wieder ein neuer Rekord. Juhu. Warum juckt mich das kaum noch? Ich fühle mich wie ein Junkie, den der Alkohol langweilt, dem das Kiffen nichts mehr bringt und bei dem nur noch feinstes Kokain irgendeinen Effekt erzielt. Aber nur Koks ist auf Dauer nicht gesund. Zu viel Erfolg auch nicht. Wo ist die Entzugsklinik für abgestumpfte Bayernfans? „Hallo, mein Name ist Seppl, und ich will mich über einen Sieg gegen Darmstadt freuen können.“ Man gewöhnt sich früher oder später an alles, auch an den Erfolg. Doch es gibt ein Methadonprogramm.

Anstoß. Real Madrid am Ball. Fehlpass Roberto Carlos, Brazzo fängt ab. Steil auf Roy Makaay. Thurn und Taxis außer sich: „Das ist die Richtung…“ Makaay schließt eiskalt ab. „DAS IST DAS TOOOOOR!!!“

Und dann zählt nur noch Champions League. Die ganz große Bühne. Das ist es, was uns Bayern noch kickt. Dann mischt sich Weltklassegekicke mit der Spannung der K.O.-Spiele, mit Rivalitäten auf höchster fußballerischer Ebene, mit einer Portion Chauvinismus und Machogehabe, mit dem netten Blick auf die Spanierin im bauchfreien Top und gleich im Anschluss mit einem weniger netten, an ihre männlichen Kollegen gerichteten „Hijos de Puta!“, und mit der am Ende des Tages versöhnlichen Erkenntnis, dass die Idee von Europa so einfach sein kann und sich das nirgends so klar zeigt wie im Fußball.

Oder Europäischer Supercup in Prag, wieder gegen Mourinho. Wenn die Roten 120 Minuten lang Feuer von den Rängen geben, besonders bei Rückstand, und man den Blauen aus London endlich mal guten Gewissens zubrüllen kann: „You only sing when you’re winning.“ Wenn die Chelsea-Fans, die 60-jährigen ZDF-Zuschauer unter den englischen Fußballanhängern, nichts entgegenzusetzen haben. Wenn Javi Martinez in den letzten Sekunden der Nachspielzeit den Ausgleich erzielt, der uns ins Elfmeterschießen bringt, das wir in perfekter Dramaturgie gewinnen. Wenn auch für Bayerfans die symbolischen Momente und der Zusammenschluss zwischen Mannschaft und Publikum mehr zählen als der reine Titel. Europäischer Supercup? Ganz nett. Aber Chelsea auf diese Art geschlagen, Moral und Teamgeist demonstriert und die Magie zwischen den Rängen und dem Feld gespürt? Es gibt es, das pure Fußball-Feeling bei einem Bayernspiel. Und man findet es am ehesten auf europäischer Ebene.

auswaertsfaht_mittraktor_cl-finale_londonEin Bayernfan muss seine Loyalität anders und kann sie vielleicht seltener zeigen als die meisten anderen Fans. Durch bedingungslose Treue in konstant schlechten Zeiten kann der Bayernfan das nicht tun, denn diese Zeiten gibt es nicht. Aber die andauernden Siege machen den Aspekt des Fanseins nicht nur leichter – im Sinne von nicht leiden müssen –, sondern auch schwerer – im Sinne von aus Gewohnheit emotional abstumpfen. Aber man sollte lernen. Man sollte lernen, zu differenzieren, denn nicht jeder „Bayernfan“ ist Bayern-FAN. Man sollte lernen, im Erfolgs-(Fan-)fall demütig zu bleiben, jeden Gegner zu respektieren und immer wieder von neuem ernst zu nehmen. Man sollte lernen, kein Arschloch zu sein, indem man nicht übermäßig mit den Erfolgen des eigenen Clubs hausieren geht, denn das wäre ungefähr so, als hielte man sich für einen coolen Macker, nur weil man mit Papas BMW rumfährt. Man kann auch lernen, zu seinem Verein zu stehen, obwohl ihn viele Leute aus den richtigen und andere aus den falschen Gründen hassen. Man kann vom FC Bayern in der Champions League lernen, dass es viel schwerer ist, oben zu bleiben, als kurzfristig nach oben zu kommen, und dass es tägliche harte Arbeit erfordert. Man kann lernen, auf dem Boden zu bleiben, wenn Medien und Verwöhn-Fans sich vom unbefriedigenden Größenwahn mitreißen lassen und behaupten, dass „nur noch das Triple“ zählt. Man kann und muss sich antrainieren, sich wieder über den Sieg gegen Darmstadt zu freuen. Ein bisschen.

Und wenn dann bald wieder die Champions League Hymne erklingt, wenn die Bestia Negra in Europas Fußballtempel einläuft und man von Manchester bis Madrid den Respekt vor Deutschlands bester Fußballmannschaft spürt, wenn wir ein fußballerisches Feuerwerk abbrennen, an die Grenzen gehen und dank „Mia san Mia“-Mentalität bis zur letzten Sekunde der Nachspielzeit an den Sieg glauben, wenn Rib dribbelt und Rob nach innen zieht und Müller müllert, wenn der FC Bayern einmal mehr für Sternstunden des europäischen Fußballs sorgt – dann zählt für ein paar Stunden wieder nur die Champions League. Und das ist gut so.

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